Immer habe ich gedacht, hinter diesen Fenstern finge etwas an. Aber immer hörte etwas auf. Kaum hatte ich in ein Triester Fenster hinein geschaut, schon schaute ich wieder hinaus. Ohne das Zimmer hinter einem dieser Fenster je betreten zu haben.
Wenn ich von außen vor einem Fenster in Triest stand, dann sah mir von innen die Zukunft entgegen. Ich musste mich nicht einmal in Triest befinden, ich konnte irgendwo auf der Welt in ein Fenster hinein schauen und sofort war es ein Fenster in Triest, hinter dessen dunklen Scheiben ich meinen Aufbruch witterte.
Dieses Fenster zum Beispiel. Kein Fenster kenne ich besser und keines ist mir fremder. Die Vorstellungen, mit denen ich es über all die Jahre belegt habe, sind nicht mehr zählbar. Wenn ihr mir nur dieses Zimmer zugestündet, dieses eine Zimmer hinter dem mattgrünen Fensterrahmen, mit der Sonnenblende, die sich nicht mehr verstellen lässt seit sie unter einem Neuanstrich in Halböffnung festgetrocknet ist. Irgendein Fenster in Triest muss es doch sein. Und dieses Fenster ist ein gutes Fenster. Ein atemberaubendes Fenster. Wenn man es anschaut, dann will man rufen: Hinter solch ein Fenster gehört das Leben!
Keine Kultur könnte im Nachhinein leugnen, was für ein makelloses Fenster das ist. Die Kerben im Innern des Fensterrahmens wurden von einem geschlagen, der hinaus wollte. Jede Kerbe ist ein Fragezeichen. Warum will jemand aus einem Fenster hinaus, wenn er es erst einmal dahinter geschafft hat? Ich habe es nicht ins Innere geschafft und darum muss ich meine Kerben von außen ins Fensterholz schlagen. Für jede Kerbe von innen schlage ich eine von außen. Wir pochen die Kerben gegeneinander, weil wir beide nicht am richtigen Platz sind. Der, der aus dem Fenster hinauswollte und ich, weil ich alles dafür geben würde, in dieses Fenster hineinzufinden.
Wenn Gott ein Fenster geschaffen hätte, dann wäre es dieses Fenster gewesen. Um eine sichtbare Spur seiner Hand zu hinterlassen. Vier Teile aus einer Rippe machen ein einfaches Fenster. Aber vier Rippen machen ein Fenster in Triest und wenn eine Rippe genügt, um einen Menschen zu formen, dann machen vier Rippen eine ganze Welt. Vier Welten befinden sich hinter einem solchen Fenster und wenn Du auch nur ein Leben hast hinter einem anderen Fenster in der endlosen und weiten Welt, dann sind es vier Leben in Triest. Vier Leben, das sind vier Versuche und vier Träume, das sind vier Sonnenaufgänge, die der Mensch nur von innen sehen kann, wenn er hinausschaut in den Hafen von Triest.
Wer nicht mehr weiß, warum er in dieses Fenster hinein wollte, der weiß auch nichts mehr über seine Natur. Das Gespür für den Stoß mit dem Handballen ist dann verloren gegangen. Für den gut gehobenen Stoß, dem jedes nur angelehnte Fenster von außen nachgibt und gleichzeitig den Weg freigibt in ein Leben, das hinter jedem Fenster gelebt werden kann. Wäre das Fenster zur rechten Zeit aufgestoßen worden, mit dem bestimmten Schlag der flachen Hand, dann hätte auch das Zimmer nur nachgeben können. Der zu starke Stoß lässt das Fenster zerspringen, das Zögern aber verschließt alle Fenster zugleich.
Hinter diesem Fenster habe ich zweimal gelebt. Und mindestens einmal davon kannte die ganze Stadt mein Fenster. Als eine Italienerin morgens von außen an meine Scheibe klopfte, öffnete ich zunächst die Holzläden und dann den Doppelflügel mit den unsauber übermalten Drehgriffen. Obwohl ich im Erdgeschoss wohnte, musste sie noch ein Stück zu mir hinauf schauen. „Was wissen Sie schon von uns?“, fragte mich die Italienerin. „Seit Sie hier leben, empfinde ich Ihr Fenster als einen Vorwurf. Schlimmer noch, Ihr Fenster ist eine Bedrohung. Es bedroht uns alle, am meisten aber bedroht es Sie selbst. Sie halten sich an Ihrem Fenster fest, als hätten Sie dieses Fenster eigenhändig gebaut. Aber Sie haben dieses Fenster nicht gebaut, so wie Sie auch keinen Ziegel dieser Mauer gebrannt haben. Was machen Sie hier in Triest? Ich muss es Ihnen sagen: Diese Stadt gehört Ihnen nicht. Und sollte Ihnen in dieser Stadt einmal ein Einfall gekommen sein, so sind Sie dazu verpflichtet, diesen Einfall an der Stadtgrenze zurückzulassen.“
Meine Einfälle lasse ich gerne in Triest zurück, weil ich auch mich selbst in Triest zurücklasse, sagte ich. Dann sah ich mich wieder gegen die Holzrahmen pochen. Für jede Stunde, die ich noch bleiben durfte, wollte ich eine Kerbe schlagen. Ich bin nicht der, den es in die Flucht geschlagen hat. Ich bin der, den ihr zur Flucht gezwungen habt. Hinaus aus dieser heißen Stadt, in der ich meinen Verstand zweimal verloren und dreimal wiedergefunden habe. Hinter diesen Fenstern, die das Sonnenlicht bündeln und gefährlich auf das eigene Holz werfen. Wenn die Sonne heiß über Triest steht, dann lassen sich die Drehgriffe nicht mehr berühren. Noch vor der Mittagszeit müssen alle Fenster entweder geöffnet oder geschlossen sein. Und dann bleiben sie so – bis der Abend kommt. L’ora delle finestre, sagt man in Triest, die Stunde der Fenster. Für jedes Fenster, das ich anschauen durfte, schlage ich eine Kerbe ins Holz.
Wenn ich nur einmal hinter einem Fenster in Triest gelebt hätte, dann wäre meine Schreibmaschine zur Ruhe gekommen. Einen Sommer lang hätte ich sie geschlagen und dann, sobald die Buchstaben nicht mehr bis zum Papier gestoßen wären, hätte ich sie im Dunkeln ins Hafenbecken geworfen. Einen Sommer lang wären die Insekten an meine Scheiben geflogen. Große Insekten, gefährliche Insekten. Und wie ein Insekt wäre auch die Italienerin an meine Scheibe geflogen. Manchmal hätte ich das Fenster geöffnet und manchmal hätte ich sie getäuscht, weil die Sätze auf Italienisch noch schneller fließen als in jeder anderen Sprache. Wer das einmal gesehen hat, wie italienische Sätze in einer Sommernacht über das Farbband springen, der konnte nur staunen! Mit welcher Geschwindigkeit aus geschriebenen Zeilen Gedanken werden, aber niemals umgekehrt. Während hundert Insekten ins helle Licht fliegen und an den Fenstern kleben bleiben, prasseln tausend Wörter in die Maschine und verenden am Papier.
Fenster in Triest sind aus Glas. Sie sind gerahmt und haben einen Griff, damit sie geöffnet und geschlossen werden können. Dieser Schlichtheit stehe ich mit Ratlosigkeit gegenüber. Wenn die Nacht beginnt, gehe ich durch die Straßen der Stadt und bewundere sie alle, weil kein Fenster schöner sein darf als ein anderes. Wenn ich die Fenster nach ihren Farben beurteilen würde, dann hätte ich schon verloren. Ich weiß: Der zu starke Stoß lässt das Fenster zerspringen, das Zögern aber verschließt alle Fenster zugleich.


