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JENS HÖFFKEN

Trost der Binnenstaaten

Posted on Januar 24, 2022März 3, 2022

Weil hundertsechzigtausend Arten von Schmetterlingen auf unserer Erde existieren, kann sie besonders bei Vollmond nicht schlafen. Sie sitzt dann vor ihren kleinen Kästchen, spickt Nadeln durch die sanftfarbigen und die grellbunten Flügel der Insekten und notiert daneben in sorgfältiger Schrift die Namen der Falter und Gespinste.

Als wieder Vollmond war, lag neben den Gespinsten ein Atlas. Sie betastete die Insekten und legte sie auf einer Weltkarte ab. Während sie Tiere präparierte, betasteten ihre Hände nicht nur Flügel, sondern strichen mit der gleichen vorsichtigen Expertise auch über die Welt. Die Länder lagen unter ihren Fingern wie Bläulinge. Sie sah, wie die Länder ans Wasser reichten, sie sah Städte und Häfen und die blauen Flächen dazwischen, die Meere, zu denen die ruhelosen Metropolen der Erde strebten.

Dann, der Vollmond schien immer heller, ereilte sie ein zärtliches Gefühl. Sie sah Länder zwischen Land und Land; Länder zwischen Ländern, umgrenzt von Landmassen, ohne eine einzige Berührung mit der offenen See. Weil der Mond so hell war, wie überhaupt noch kein Vollmond jemals hell geschienen hat, zerbrach sie förmlich in mitfühlender Bewegtheit. Sie nahm einen Weißling, legte ihn auf eines der von Land umzwungenen Länder und dachte darüber nach, wie man es zur See führen könnte. Sie wollte Binnenstaaten trösten.

Diese Binnenstaaten, manchmal zwischen den Ländern; manchmal auch, wie dort unten, Lesotho, als Land im Land, diese wasserlosen Landinseln zerschmetterten ihr das Gemüt. Es flog ein Gespinst ins Zimmer; Gespinste sitzen an der Decke, kopfüber und schlafen. Ruhig ziehen sie ihre Runden, suchen sich einen nahezu beliebigen Platz und schlafen ein. Nur manchmal liegt ein Gespinst, das seine eigene Zeit überdauert hat, abgestürzt auf einem Polster, einem Tisch oder einem Kopfkissen. Dann findet es bald seinen Platz in der sorgfältigen Sammlung mit den kleinen Nadeln.

Wie tröstet man die Binnenstaaten? Foucault fiel ihr ein. Eine Gesellschaft ohne Schiff ist eine Gesellschaft ohne Träume. Sie erhob sich sofort gegen Foucault, indem sie protestierte, womöglich hätten Gesellschaften ohne Schiff noch viel größere Träume und noch eine nähere Lage am Meer. „Seelisch, meine ich“, sagte sie. Einzig das Schiff fehlt dort. Ein Schiff, laut Foucault die größte Heterotopie, die es überhaupt geben kann: Ein gedrungener Ort, voller Träume und Melancholie, der als geschlossenes Land auf’s Meer hinauszieht. Und können nicht gerade Länder ohne Schiff und ohne Meer eben dieses buchstäbliche Schiff am schönsten in ihre Träume einschließen?

In Tschechien gibt es keine Hafenkneipen und dennoch grüßen die Tschechen Ahoj. Die Welt hat selten Humor, aber der Vollmond meistens. Neben dem Fenster, da saßen ein Schillerfalter und ein Glasflügler.

Hinter der Zeitung wiederum, da lag Professor Unrat. Und Lola saß in der Hafenkneipe, singend über die See und den Aufbruch der Seeleute am nächsten Morgen aus Lübeck: Nordwärts, erst durchs Landgewässer. Nach dem Kanal bald auf See, dann zum Atlantik, dann zum Pazifik. In ihrem Atlas war das ein Weg durch die Farben. Vom Weiß zum hellen Blau. Vom dunkleren Blau zum Dunkelblau. Der Weg über die verschiedenen Tiefen der Meere führte die Seeleute von Lübeck aus nach Kalkutta, manchmal nach Bangkok. Das Dunkelblau entsättigte sich dann langsam wieder zum Weiß und führte die Seeleute schließlich zu einem Grün, einem Gelb oder einem Orangerot der Atlanten.

Sie ordnete ihre Insekten mit einer speziellen Pinzette. Die Falter lagen über die Weltkarte verteilt. Sie nahm einen Weißling von Tschechien herunter und legte ihn an seinen angestammten Platz im Holzkasten, in einer sich täglich erweiternden Sammlung. Der Vollmond stand vor dem Fenster und manchmal hörte sie die See. Manchmal hörte sie sogar deutlich die Brandung, dann legte sie sofort ihre Finger auf die Flügel der Insekten. Die Insekten sagten Steuerbord, Backbord oder Leinen los. Und weil der Mond so hell war, sahen die Schatten der wenigen Wolken auf ihren Zimmerwänden so aus, als spiegelte sich dort der Wellengang der Ozeane. Immerhin wusste sie: Hinter Grenzen, neuen Grenzen und wieder Grenzen, da grenzt die ganze Welt an die See. Sie tröstete die Binnenstaaten. Am nächsten Tag war der Mond ein Stück kleiner geworden und die Wolken zu groß für ihre Phantasie.

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